Herkunft und Scham: Warum hält sich dieses Gefühl?

Heute habe ich mir die Zeit genommen, über ein Thema zu schreiben, das mir schon seit langer Zeit auf der Seele brennt. Herkunft und Scham: Warum verfolgt uns dieses Gefühl noch immer? Ich bin Russlanddeutsche – geboren in Russland mit deutschen Vorfahren. Dieses familiäre Erbe hat einen sehr traurigen und grausamen historischen Hintergrund, und doch bin ich stolz, eine Nachfahrin dieses Volkes zu sein. Doch heute geht es nicht um meine Wurzeln, sondern um Nationalstolz.

Mein Leben lang hatte ich immer das Gefühl, nur über meine Herkunft flüstern zu dürfen und habe begreifen müssen, dass meine Nationalität in jedem Land anders definiert wird.

Meine Mentalität ist eine lebendige Mischung aus verschiedenen Kulturen. In Russland geboren, vereine ich in mir den Kampfgeist, die Gastfreundschaft, die Melancholie und die Nostalgie dieses Landes. In Deutschland aufgewachsen, haben mich Werte wie Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Toleranz geprägt und mich zu einem offenen und aufgeschlossenen Menschen gemacht, der seine Meinung vertritt. Nun, seit Jahren in der schönen Schweiz verwurzelt, habe ich auch Neues gelernt: aus Höflichkeit meine Meinung auch mal für mich zu behalten, neutral zu bleiben und ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Doch heute zeige ich Gesicht!

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat viele Menschen in einen tiefen Konflikt gestürzt und auch mich in einen inneren Disput mit mir selbst gebracht. Es ist erschütternd, dass wir auch heute noch nicht aus der Geschichte gelernt haben und unsere Welt erneut vom Krieg bestimmt wird. Jeden Tag wird mir bewusster, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, sondern an einem seidenen Faden hängt. Am Ende sind wir doch alle Kinder dieser Erde. Wenn mich jemand nach meiner Nationalität fragt, fällt es mir schwer, eine eindeutige Antwort zu geben, denn ich bin das Produkt meiner Umwelt. Mein Weg hat mich von Russland über Deutschland bis in die Schweiz geführt. Ich fühle mich weder als das eine noch als das andere – ich bin ein Kind dieser Erde und stolz auf jedes Land, das mich geprägt hat.

Umso mehr schmerzt es mich, wenn ich diesen Stolz aus gesellschaftlichen Normen nicht zeigen darf.

In Deutschland wurde das Schaufenster eines kleinen russischen Marktes mit Steinen eingeworfen. Es wurde ein Zettel mit einem Schweinekopf an die Tür geklebt, mit der Aufschrift: Russenschweine raus aus Deutschland!

Die Auftritte russischer Künstler wurden boykottiert und Bücher namhafter Autoren aus den Regalen der Buchhandlungen genommen.

Selbst ich habe eine Erfahrung gemacht, die mich mehr gekränkt hat, als ich es mir zunächst eingestehen wollte. Man hat, ohne das Gespräch mit mir zu suchen, meine russische Herkunft von einer öffentlichen Seite entfernt, und ich musste durch Zufall sehen, dass die Zeile gelöscht wurde. Ich denke, es geschah aus dem allseits bekannten Grund: Was sollen denn die Leute denken? Hätte man das Gespräch mit mir gesucht, hätte ich es vielleicht sogar verstanden, doch das zu sehen, gab mir noch verstärkter das Gefühl, dass ich mich meiner Wurzeln wegen schämen müsste. Zunächst reagierte ich aus Selbstschutz mit Gleichgültigkeit und redete mir ein, es sei keine grosse Sache. Ich habe mir sogar ernsthaft Gedanken darüber gemacht, allgemein weniger zu kommunizieren, woher ich komme, und es nur preiszugeben, wenn ich danach gefragt werde. Später sah ich, wie falsch das war. Warum soll ich nicht zu dem stehen dürfen? Es ist ein Teil von mir und meiner Geschichte. Ich begriff, wer soll für mich einstehen, wenn ich es nicht selbst tue? Es wurde mir bewusst, dass es kein Thema ist, das irgendwo weit weg auf der Welt passiert. Es betrifft mich selbst. Ich schäme mich nicht für meine russische Herkunft.

Es ist schrecklich, was gerade im Osten passiert, doch das darf uns nicht dazu verleiten, mit dem Finger auf ein ganzes Land zu zeigen. Ich bin stolz, in Russland geboren zu sein. Es ist das Land, das grosse Männer wie Leo Tolstoy und Boris Pasternak hervorgebracht hat, das uns wie kein anderes die Leidenschaft und Melancholie in Werken wie Anna Karenina nähergebracht hat. Ein Land, das für deftige Küche und herzliche Gastfreundschaft steht. Ein Land mit einer solch rauen und atemberaubenden Natur, wie es sie kein zweites Mal gibt.

Ich weigere mich, den Stolz auf meine Herkunft zu verleugnen, nur weil einige Menschen Vorurteile hegen. Nationalstolz sollte nicht bedeuten, andere Nationen zu verachten oder sich über sie zu erheben. Vielmehr bedeutet es, die positiven Aspekte und Errungenschaften der eigenen Kultur zu würdigen und gleichzeitig offen und respektvoll gegenüber anderen Kulturen zu sein.

Es ist an der Zeit, dass wir lernen, Menschen nicht nach ihrer Herkunft zu beurteilen, sondern nach ihren Taten und ihrem Charakter. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine zeigt uns, wie schnell sich Hass und Vorurteile verbreiten können. Doch wir haben die Wahl, ob wir diesem Hass nachgeben oder uns für Frieden und Verständnis einsetzen.

Lasst uns den Mut haben, stolz auf unsere Herkunft zu sein und gleichzeitig die Herkunft anderer zu respektieren. Nur so können wir eine Welt schaffen, in der alle Menschen in Frieden und Harmonie zusammenleben. Wenn wir unsere kulturellen Unterschiede als Bereicherung statt als Bedrohung sehen, können wir gemeinsam eine bessere Zukunft gestalten.

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